5 Sep 25 — 26 Apr 26
Ernst Fritsch, Wisent, 1921, Privatsammlung Wiesbaden © VG Bild-Kunst, Bonn 2025. Foto: Dr. Irene Lehr Kunstauktionen GmbH
Als der repräsentative Neubau des Museums Wiesbaden im April 1915 eröffnet wird, ist die Kunst der Klassischen Moderne (um 1900—1950) mit ihren expressiven, abstrakten und neusachlichen Tendenzen hochaktuell und zeitgenössisch. Schon damals profitiert das Haus vom Engagement einzelner privater Personen, etwa von Heinrich Kirchhoff oder Hermann Pagenstecher, die ihre reichhaltigen Sammlungen in den Räumen des Museums dauerhaft der Öffentlichkeit zugänglich machten. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten ändert sich die Situation gravierend: Nach dem Zweiten Weltkrieg ist durch Beschlagnahmeaktionen des Terrorregimes von der inzwischen tatsächlich „klassisch“ gewordenen Moderne und einstigen Avantgarde kaum etwas übrig geblieben. Erneut sind es engagierte Bürgerinnen und Bürger, die mit großzügigen Schenkungen, Stiftungen oder durch testamentarische Verfügungen dazu beitragen, die Bestände wieder aufzubauen oder substanziell zu erweitern.
Nun sollen diese bedeutenden Schenkungen und ihre dahinter verborgenen Geschichten vorgestellt werden: Den Impuls dazu gab eine so umfangreiche wie qualitätvolle Kollektion zur Epoche der Klassischen Moderne, die ein Wiesbadener Privatsammler über viele Jahre hinweg zusammengetragen und dem Museum 2018 testamentarisch zugesichert hat.
Das Besondere an dieser jetzt erstmals in einer repräsentativen Auswahl vorgestellten Kollektion ist, dass sie vom Sammler präzise auf den aktuellen Bestand des Museums Wiesbaden abgestimmt wurde. Denn vor jeder Neuerwerbung stellte uns der Mäzen immer diese eine schöne Frage: „Ist das auch für das Museum interessant?“ Ja, das ist es — sogar sehr!
Künstler:innen der Sammlung
Der wohlhabende Privatier Heinrich Kirchhoff (1874—1934) bezieht um 1908/09 seine soeben fertiggestellte Jugendstilvilla in der Beethovenstraße 10. Von dort aus kann er den Neubau des Museums Wiesbaden, der 1912/13 beginnt, hautnah verfolgen. Nicht zuletzt deshalb dürfte die Kunst zu seiner Leidenschaft geworden sein. Sogleich mit der Eröffnung im April 1915 verkörpert die Sammlung Kirchhoff in den prächtigen Räumen des Hauses die bislang nicht vorhandene Abteilung für zeitgenössische Kunst. Seiner Kollektion, die ihren Fokus im Lauf der Jahre vom Impressionismus über den Expressionismus bis hin zur Neuen Sachlichkeit und geometrischen Abstraktion verschiebt, können 2018 knapp 800 Arbeiten zugeordnet werden.
Kirchhoff hat die Vision, Wiesbaden nach dem Vorbild Berlin als wichtiges deutsches Kunstzentrum zu etablieren. Er selbst versucht nicht nur, junge Künstler wie Conrad Felixmüller (1918) an die Stadt zu binden, sondern es ist ihm genauso zu verdanken, dass sich der arrivierte Maler Alexej von Jawlensky 1921 hier niederlässt. Wegen seiner hochkarätigen Sammlung (und wohl auch wegen seines Geldes) kommen viele Größen der Avantgarde wie George Grosz, Wassily Kandinsky, Paul Klee oder Emil Nolde in den 1920er-Jahren in die Kurstadt. Kirchhoff plant außerdem von Beginn an, seine Sammlung dem Museum als Schenkung zu überlassen. Aber alles kommt anders: Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wird ihm, dem Privatier, sein bis zu fünf Säle umfassender Kunstbesitz zurückgegeben. Kurz darauf verstirbt Kirchhoff, der die Welt nicht mehr verstanden haben dürfte, an Herzversagen. Heute ist die Sammlung, die sein Lebenswerk war, sofern die aktuellen Standorte der Bilder identifiziert werden konnten, weit verstreut: Sie befinden sich u. a. im Metropolitan Museum, im MoMA oder im Guggenheim-Museum in New York. Bislang war es nur punktuell möglich, Werke für das Museum Wiesbaden zurückzuerwerben, dennoch bleibt die Sammlung Kirchhoff erster Bezugspunkt der Abteilung Klassische Moderne.
Künstler:innen der Sammlung
Hanna Bekker vom Rath (1893—1983) ist vieles: Malerin, Netzwerkerin, Mäzenin und Kunsthändlerin. Parallel zu all diesen Facetten bleibt sie durchgehend immer auch Sammlerin. Ihr erstes Kunstwerk — ein expressiver spätgotischer Christustorso — erwirbt sie bereits 1909 noch als Jugendliche und auf eigene Initiative hin; ab den 1920er-Jahren favorisiert sie dann explizit Expressionistisch-Figürliches, etwa von Wilhelm Lehmbruck oder Ernst Ludwig Kirchner. Eines ihrer Vorbilder dürfte Heinrich Kirchhoff gewesen sein, den sie zwischen den beiden Weltkriegen mehrmals in seiner Wiesbadener Villa besucht. 1947 gründet sie ihr „Frankfurter Kunstkabinett“ und pflegt generell einen engen, teilweise familiären Kontakt mit vielen Künstlerinnen und Künstlern, von denen sie nicht wenige bereits während der Zeit des NS-Regimes mutig unterstützte. Sie entwickelt in all den Jahren ein untrügliches Gespür für höchste künstlerische Qualität, die sich nicht zuletzt in ihrer Privatsammlung niederschlägt.
In ihrem Testament bestimmt Hanna Bekker, die fast durchgehend in Hofheim am Taunus gelebt hat, dass 30 ausgewählte Werke dieser über Jahrzehnte entstandenen Kollektion für einen obligatorischen Betrag einem Museum im Rhein-Main-Gebiet „geschenkt“ werden sollen. Den Zuschlag erhält 1987 das Museum Wiesbaden, das damit im Bereich expressionistischer Malerei auf einen Schlag wieder zu einer der ersten Adressen in Deutschland zählt. Um den Ankaufsbetrag aufzubringen, wird eigens der „Verein zur Förderung der bildenden Kunst in Wiesbaden e. V.“ gegründet.
Eines der Argumente beim Vollzug des Testaments, für Wiesbaden zu votieren, war der Umstand, dass 14 der 30 zur „Schenkung“ vorgesehenen Bilder von Jawlensky stammen — also just von jenem Maler, der 20 Jahre bis 1941 in Wiesbaden (und hier teilweise direkt Heinrich Kirchhoff gegenüber) gelebt hat. Spätestens mit dem Hanna-Bekker-Konvolut avanciert die Wiesbadener Jawlensky-Sammlung zur bedeutendsten öffentlichen weltweit.
Künstler:innen der Sammlung
Anlässlich seines 80. Geburtstags im Jahr 2018 entscheidet der seit den späten 1950er-Jahren in Wiesbaden lebende Frank Brabant (* 1938), seine Sammlung nach seinem Ableben hälftig an die Staatlichen Kunstsammlungen Schwerin und das Museum Wiesbaden zu geben. Schwerin ist die Geburtsstadt des Sammlers; in Wiesbaden trug er seine Kollektion über sechs Jahrzehnte zusammen. Das erste Kunstwerk — ein Holzschnitt von Max Pechstein — erwirbt Brabant, der bis in die 1990er-Jahre Geschäftsführer einer überregional bekannten Diskothek ist, 1964 im Frankfurter Kunstkabinett Hanna Bekker vom Rath. Seine Sammelleidenschaft wird damit geweckt — heute befinden sich über 700 Kunstwerke in seinem Besitz. Das Besondere an diesem Bestand ist die ausgewogene Verteilung, in der einerseits viele große Namen der Avantgarde, aber zugleich weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler, die aufgrund der NS-Terrorherrschaft in Vergessenheit gerieten, vorhanden sind.
Bereits im Jahr 2014 schenkt Brabant anlässlich des 150. Geburtstags des Malers Alexej von Jawlensky dem Museum Wiesbaden mit dem Porträt Helene im spanischen Kostüm das größte Gemälde des russischen Künstlers sowie ein weiteres sehr bedeutendes Selbstbildnis Karl Hofers. Seit 2010 in der Schau Bilderleidenschaft erstmals Höhepunkte seiner Kollektion in Wiesbaden präsentiert wurden, unterstützt der Sammler regelmäßig Sonderausstellungen des Hauses mit Leihgaben — etwa von Karl Schmidt-Rottluff (2015), August Macke (2020) oder Max Pechstein (2023).
Einen Schwerpunkt des Konvoluts bildet die expressionistische Avantgarde am Beginn des 20. Jahrhunderts im Umfeld der Künstlervereinigungen „Brücke“ und „Der Blaue Reiter“. Ein anderer liegt auf den eng miteinander verwandten Kunstrichtungen Neue Sachlichkeit und Sozialkritischer Realismus. Letzterer war am Museum Wiesbaden bisher nur sporadisch mit wenigen lokalen Werken repräsentiert, weshalb die Sammlung Brabant durch die zusammengetragenen überregional bekannten Namen dieser Stilrichtung eine weitere wichtige Bereicherung für das Haus darstellt.
Künstler:innen der Sammlung
Bislang wenig bekannt ist die Sammlung Rick, aber seit 2013 — dem Moment der offiziellen testamentarischen Übereignung — nicht mehr aus der ständigen Präsentation des Museums Wiesbaden wegzudenken. Seit diesem Zeitpunkt sind ihre Gemälde von Max Ernst, Gabriele Münter oder Karl Schmidt-Rottluff auf der Beschilderung der Exponate mit dem Zusatz „Schenkung Marianne und Wirnt Rick“ versehen.
Das Stifterpaar lebt lange in Düsseldorf, wo die etwa 40 Werke umfassende Sammlung hauptsächlich und Stück für Stück zusammengetragen wird. Nach der Pensionierung von Prof. Dr. Wirnt Rick, der an den dortigen Universitätskliniken das Institut für klinische Chemie geleitet hat, zieht das Ehepaar nach München. Aber warum ging die Schenkung an Wiesbaden und nicht nach Düsseldorf oder München, die Lebensorte der Eigentümerin und des Eigentümers?
Dies erklärt sich folgendermaßen: 1994 wird dem Museum Wiesbaden zunächst anonym über die Düsseldorfer Galerie Neher das Schmidt-Rottluff-Gemälde Verandamorgen, das auf der Balkonterrasse Hanna Bekkers in Hofheim gemalt worden ist, als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt. Das Ehepaar Rick hatte das Bild mit dem Blick in den Taunus hinein 1986 erworben — nur ein Jahr vor der in ganz Deutschland Aufsehen erregenden Übergabe der Sammlung Hanna Bekker vom Rath ans Museum Wiesbaden. Dies wiederum liefert für das Ehepaar Rick, als sie nach München umziehen, den entscheidenden Impuls zu dem Schritt, das Gemälde dem Museum mit ‚der‘ Hanna-Bekker-Sammlung als Dauerleihgabe anzubieten. Nach dem Tod von Wirnt Rick im Jahr 2002 lässt die Witwe alsdann wissen, dass sie als Alleinerbin ein Testament verfassen wolle und es „der Wunsch ihres verstorbenen Mannes war“, ihre „Bilder und Plastiken der Öffentlichkeit zugänglich“ zu machen. Durch die langjährige vertrauensvolle Zusammenarbeit wird schließlich das Museum Wiesbaden als Erbe der Sammlung Rick eingesetzt. Damit lässt sich auch diese Schenkung auf Hanna Bekker zurückführen, weil streng genommen sie der Anlass der Familie Rick zur ersten Kontaktaufnahme mit dem Museum Wiesbaden gewesen ist.
Künstler:innen der Sammlung
Große Namen wie Erich Heckel, Alexej von Jawlensky, Ida Kerkovious und Max Pechstein verleihen der Sammlung ihre Strahlkraft und bilden zentrale Positionen des deutschen Expressionismus mit seinen Künstlergruppen „Der Blaue Reiter“ und „Brücke“ ab. Selten ausgestellte Künstlerinnen wie Erma Bossi, Elisabeth Epstein oder Ilona Singer und bedeutende Skulpturen von Ernst Barlach, Gerhard Marcks, Marg Moll oder Milly Steger ergänzen die herausragende Werkzusammenstellung. In der Ausstellung wird die bewegte Geschichte der in über einhundert Jahren aufgebauten „Abteilung Klassische Moderne“ des Museums Wiesbaden reflektiert, zu deren Umfang und Qualität Schenkungen und Stiftungen beigetragen haben. Dabei wird museale Arbeit sichtbar gemacht und die Geheimnisse hinter diesen bedeutenden Sammlungszuwächsen aufgedeckt.