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Provenienzforschung: Der Fall Flersheim

WISSEN & FORSCHUNG

Der Verein zur Förderung der bildenden Kunst in Wiesbaden e.V. restituierte Ende Mai 2020 das Gemälde "Prozession im Gebirge" von Adolf Hölzel (1883–1934) an die Erben der Frankfurter Familie Flersheim. Das Gemälde kam 1987 aus dem Nachlass von Hanna Bekker vom Rath (1893–1983) an das Museum Wiesbaden und ist seitdem als Dauerleihgabe im Bestand des Hessischen Landesmuseums. Bis zu seiner Überführung zu den Erben in die USA wird das Gemälde vom 30. Juni bis 30. August 2020 in der Gemäldegalerie des Museums präsentiert. Foto: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert

Adolf Hölzel, Prozession im Gebirge, 1909/10, Öl auf Leinwand, 62 x 50,5 cm, Erben nach Ernst und Gertrud Flersheim, Foto: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert
Adolf Hölzel, Prozession im Gebirge, 1909/10, Öl auf Leinwand, 62 x 50,5 cm, Erben nach Ernst und Gertrud Flersheim, Foto: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert

Die Provenienz des vor über 30 Jahren in den Bestand des Museums Wiesbaden gelangten Gemäldes schien lange Zeit als unbedenklich, da laut Literaturangaben Hanna Bekker vom Rath das Gemälde „vor 1924 auf einer Auktion in Frankfurt“ erworben hatte (Ausst.-Kat. Schwerpunkte. 30 Neuerwerbungen aus der Sammlung Hanna Bekker vom Rath, Wiesbaden 1988, S. 117, Farbabb. Kat. Nr. 25).

Allerdings erbrachte die Suche nach einem Auftreten des Gemäldes in Frankfurter Versteigerungen Hinweise auf einen möglichen späteren Erwerbungszeitpunkt. So führt der Katalog zur Auktion vom 11.-13. Mai 1937 bei dem Frankfurter Kunstversteigerungshaus Hugo Helbing unter der Nr. 32 ein Gemälde von Adolf Hölzel, „‘Prozession im Gebirge‘, 1913, 60 x 49 cm“ auf. Der Einlieferer ist im Besitzerverzeichnis mit dem Kürzel „Fl.“ angegeben.

 

Suchmeldung in der Lost Art-Datenbank (screenshot Lost Art), Deutsches Zentrum Kulturgutverluste
Suchmeldung in der Lost Art-Datenbank (screenshot Lost Art), Deutsches Zentrum Kulturgutverluste

Die daraufhin folgende Überprüfung bei der vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste betriebenen Datenbank Lost Art ergab, dass das 1937 verauktionierte Gemälde seit 2005 von den Erben nach Ernst und Getrud Flersheim gesucht wurde.

In einem nächsten Schritt galt es zu klären, ob angesichts der nahezu identischen Maßangaben sowie der Beschreibung im Auktionskatalog von einer Werkidentität der beiden genannten Gemälde auszugehen war und ob Hanna Bekker vom Rath das Bild möglicherweise doch erst im Mai 1937 erworben haben könnte.

Schreiben von HBvR an den Stuttgarter Galerieverein vom 21.12.1952, Altregistratur, Ausstellungsordner Adolf Hölzel 1953. Foto: © Staatsgalerie Stuttgart / Dank an Dr. Anja Heuss und Johanna Poltermann für die Unterstützung der Recherchen.
Schreiben von HBvR an den Stuttgarter Galerieverein vom 21.12.1952, Altregistratur, Ausstellungsordner Adolf Hölzel 1953. Foto: © Staatsgalerie Stuttgart / Dank an Dr. Anja Heuss und Johanna Poltermann für die Unterstützung der Recherchen.

Recherchen über das Bild

In der Literatur lässt sich das auf um 1908/09 datierte Gemälde bereits ab 1915 mehrfach nachweisen. Nach 1945 war es wiederholt in Ausstellungen zum Oeuvre Adolf Hölzels als Leihgabe von Hanna Bekker vom Rath vertreten – wie auch die Etiketten auf der Bildrückseite belegen. Im Zusammenhang mit der großen „Gedächtnisausstellung zum hundertsten Geburtstag von Adolf Hoelzel“, die 1953 vom Stuttgarter Galerieverein in Verbindung mit der Württembergischen Staatsgalerie Stuttgart veranstaltet wurde, hat sich im Archiv der Staatsgalerie Stuttgart ein Schreiben von Hanna Bekker vom Rath überliefert, dem weitere Hinweise zur näheren Bestimmung des Erwerbsdatums zu entnehmen sind. Demnach hat Hanna Bekker vom Rath das Bild Prozession in den 30er Jahren in einer Auktion in Frankfurt/M erworben. Jahreszahl und Vorbesitzer seien ihr unbekannt.

Kontaktaufnahme mit den Erben

Mit diesen Rechercheergebnissen ging der Verein zur Förderung der bildenden Kunst in Wiesbaden e.V. auf die Vertreter der Erben nach Ernst und Gertrud Flersheim zu und brachte seine Bereitschaft zum Ausdruck, im Sinne der Washingtoner Prinzipien die Werkidentität des Adolf Hölzel-Gemäldes zu klären und gemeinsam eine gerechte und faire Lösung zu finden.

Seitens der Erbenvertreter konnte eine annotierte Fassung des Helbing-Katalogs zur Auktion am 11.-13. Mai 1937 ermittelt werden. Danach ergibt sich eindeutig, dass Erwerberin der Katalognummer 32 für 105,- RM „Frau Hanna Becker“ war.  Der in der Zeitschrift Die Weltkunst veröffentlichte Preisbericht zur Auktion bei Hugo Helbing, Frankfurt am Main bestätigt den Verkauf des Gemäldes für 105,- RM.

Preisbericht in Die Weltkunst 11 1937, S. 22-23 4. Foto: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/wk1937/0104
Preisbericht in Die Weltkunst 11 1937, S. 22-23 4. Foto: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/wk1937/0104

Zur Sammlung Ernst und Gertrud Flersheim

Die Familie Flersheim war in Frankfurt am Main bis in die NS-Zeit über mehrere Generationen hinweg ansässig. Ernst Flersheim (1862–1944) wurde in Frankfurt a. M. geboren und absolvierte seine Kaufmannslehre im Geschäft seines Vaters in der Frankfurter Töngesgasse. 1892 ging die Inhaberschaft der Firma an die beiden Brüder Ernst und Martin Flersheim (1856–1935) über. Sie spezialisierten sich fortan auf den Handel mit Horn, Rohr, Elfenbein und Schildpatt und entwickelten die Firma Flersheim-Hess zu einem international tätigen Unternehmen.

Nach ihrer Heirat im Jahr 1892 lebten Ernst und Getrud Flersheim, geb. von Mayer (1872–1944) mit ihren drei Kindern Hans (1893–1933), Edith (1895–1992) und Margarete (1904–1940) im Frankfurter Westend. Ihr gemeinsames Interesse an Kunst fand auch Ausdruck in einer bedeutenden Bildersammlung, die vorwiegend Gemälde deutscher Künstler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie u.a. von Hans von Marées, Max Slevogt, Hans Thoma und Wilhelm Trübner enthielt. Werke von Künstlern der internationalen Klassischen Moderne wie Paul Gauguin, Ferdinand Hodler, Ignazio Zuloago und Jan Toorop waren ebenfalls in der Kollektion vertreten.

Gedenktafel am Haus in der Frankfurter Myliusstraße 32, Foto: Internet
Gedenktafel am Haus in der Frankfurter Myliusstraße 32, Foto: Internet

In den Räumen ihres Hauses in der Frankfurter Myliusstraße 32, in dem von 1878–1896 die Komponistin und Pianistin Clara Schumann (1818–1896) gelebt hatte, konnte die Gemäldesammlung angemessen gehängt und kunstinteressierten Gästen präsentiert werden. Die Flersheims nahmen über zahlreiche Mitgliedschaften in öffentlichen Vereinen und Gesellschaften regen Anteil am kulturellen Leben der Stadt und stellten mehrfach Werke ihrer Sammlung als Leihgaben für Ausstellungen zur Verfügung.

Verfolgung und Emigration

Spätestens mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Januar 1933 sah sich die Frankfurter jüdische Bevölkerung zunehmend Diffamierungen und Demütigungen ausgesetzt. Ab April 1933 verschärften sich die Diskriminierungsmaßnahmen gegen jüdische Mitbürger und deren Geschäfte. Auch die Familie von Ernst und Gertrud Flersheim gehörte aufgrund ihrer jüdischen Abstammung zur Gruppe der während des Nationalsozialismus rassisch Verfolgten.

Die sich stetig verstärkenden antisemitischen Repressionen zwangen die Familie 1936/37 zur Flucht aus Frankfurt a. M. in das vermeintlich sichere Ausland. Die beiden Töchter Edith Eberstadt geb. Flersheim und Margerete Wertheim geb. Flersheim konnten 1936 zusammen mit ihren Ehemännern und Kindern nach London und Brüssel flüchten. Ernst und Gertrud Flersheim emigrierten 1937 nach Amsterdam. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Niederlande im Mai 1940 wurden die beiden inhaftiert und später in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert, wo sie 1944 umkamen. Auch die Tochter Margerete Wertheim und ihre Familie überlebten die Verfolgung nicht. Margerete, die unter einer schweren Erkrankung litt, nahm sich in Brüsseler Exil das Leben, um ihren Mann Rudolf und Sohn Hans nicht zur Last zu fallen. Rudolf und Hans Wertheim wurden 1942 von Drancy nach Auschwitz deportiert und ermordet. Edith Eberstadt geb. Flersheim überlebte mit ihrem Ehemann Georg Eberstadt und den beiden Kindern Walter und Bridget Eberstadt den Holocaust in England.

Ernst und Getrud Flersheim hatten im Zuge ihrer Emigration nach Amsterdam im Mai 1937 wesentliche Teile ihrer Kunstsammlung bei dem Frankfurter Auktionshaus Hugo Helbing versteigern lassen. Edith Eberstadt bemühte sich nach 1945 um Rückerstattung der Objekte aus der Kunstsammlung ihrer Eltern. Einige Gemälde in Privatsammlungen und öffentlichen Museen konnten ausfindig gemacht werden und es kam zu gütlichen Einigungen und Restitutionen. Der Verbleib des Hölzel-Gemäldes war dagegen lange unbekannt.

Foto: Privat
Foto: Privat

Miriam Olivia Merz, Provenienzforscherin,
Zentrale Stelle für Provenienzforschung in Hessen c/o Museum Wiesbaden

Translation: Staci von Boeckmann

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