Am 1. Mai vor einhundert Jahren wurde Günter Fruhtrunk geboren. Was heute viele nicht mehr wissen: Seine Kunst prägte auf Jahrzehnte das Straßenbild der Bundesrepublik – und dies auf ungewöhnliche Weise: 1970 entwarf er das Design für die Plastiktüten des Discounters ALDI Nord.
Wenngleich Fruhtrunk selbst im Anschluss seine Münchner Klasse an der Akademie betreten haben soll mit den Worten: „Ich habe gesündigt“ (begleitet von einem ordentlichen Betrag als Ablass in die Kaffeekasse), so ist doch Fruhtrunks Gestaltung lange Zeit alltäglich sichtbar im Straßenbild, zumindest der nördlichen Hälfte Deutschlands – und dies lange über seinen Freitod im Jahre 1982 hinaus.
Dass er als Urheber der Gestaltung nicht dauerhaft im Bewusstsein blieb, ist im Übrigen nichts Ungewöhnliches: auch, dass sein Kollege Anton Stankowski das Logo der Deutschen Bank und sein zeitweiliger Weggefährte Victor Vasarely die Raute für Renault entworfen hat, wissen heute nur mehr wenige.
Es war aber tatsächlich damals nicht ungewöhnlich, dass sich Markendesign auch der Unterstützung aus der „freien“ Kunst bediente, dass die Übergänge fließend waren. Und ja, Fruhtrunk war um 1970 zeitgemäß und modern, er war documenta-Teilnehmer und Professor in München. Aber Fruhtrunk war viel mehr als das: er revolutionierte die abstrakte Nachkriegsmalerei in einer Weise, die bis heute ihresgleichen sucht. Seine Gemälde als Farbklänge und Rhythmusstrukturen fordern die Betrachterinnen und Betrachter heraus, bieten dem Auge Flirren und Halt zugleich.
Er verwehrte sich der gestischen Nachkriegsabstraktion, die er als „Ich-Ausschüttung“ begriff und entwarf doch äußerst emotionale und bewegende Bilder. Die Kraft der Farbe ernst nehmend und der optischen Sensation vertrauend setzte er sich doch stets ab, von oberflächlicher Op-Art oder reinem Spektakel. Sein Arbeiten in Bild-Serien, seine Bezüge zur Musik, die sich in zahlreichen Titeln spiegeln, zeugen von einem Tiefgang in der Beschäftigung, deren Stringenz noch heute beeindruckt.
Ausgehend von Begegnungen mit Willi Baumeister, Julius Bissier und Fernand Léger, besonders aber in seiner Freundschaft zu Hans Arp erfuhr er Förderung und Inspiration. Er geht nach Paris und lässt sich zunächst dort, später dann etwas außerhalb und zurückgezogen nieder. Stets bleibt er aber auch in Deutschland präsent, pflegt philosophische Diskurse und eine Freundschaft mit Jürgen Habermas. Seine Bedeutung und sein Wirken an der Münchner Akademie sind kaum zu überschätzen.
Überhaupt gilt es gerade heute, 100 Jahre nach seiner Geburt und rund 40 Jahre nach seinem zu frühen Tod, seine Kunst erneut zu entdecken. Eine Kunst, die gerade im monumentalen Spätwerk eine malerische Feinsinnigkeit aufblitzen lässt, die wir doch gerne noch weiter und intensiver verfolgt hätten.
Und so lässt es sich der damalige Präsident der Münchner Akademie im Januar 1983 auf der Gedenkfeier zu Ehren Fruhtrunks auch nicht nehmen, eine anonyme Inschrift im Aufzug des Instituts zu erwähnen. „Fruhtrunk, komm wieder!“ hatte hier jemand die wohl allgemein empfundene Wunschformel zusammengefasst. (Jürgen Wißmann, Katalog: Günter Fruhtrunk, München 1993)
Dr. Jörg Daur
Kustos moderne und zeitgenössische Kunst
Gemeinsam mit dem Kunstmuseum Bonn zeigt das Museum Wiesbaden 2024 die Retrospektive Günter Fruhtrunk 1952-1982.
Bonn: ab 16.11.2023 | Wiesbaden: ab 26.4.2024