Seit 2020 unterstützt das hessische Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur die hessischen Landeseinrichtungen bei der Aufarbeitung ihrer Sammlungen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den ethnologischen Sammlungen der Landesmuseen in Kassel, Darmstadt und Wiesbaden, sowie den Beständen in den hessischen Schlössern und Gärten. Aber was sind eigentlich Ethnologica? Woher kommen sie und warum sollte ihnen und ihrer Geschichte eine besondere Aufmerksamkeit gelten?
Hierzu haben wir den zuständigen Koordinator für Kooperationsprojekte, Andy Reymann befragt, der gemeinsam mit Yvonne Finzler auch für die ethnologische Sammlung hier am Museum Wiesbaden zuständig ist.
Die Ethnologie, auch Sozial- oder Kulturanthropologie, befasst sich mit der vergleichenden Untersuchung von Gesellschaften und Kulturen weltweit. Auch die eigene Gesellschaft wird betrachtet – vor allem im Hinblick auf die Frage, wie wir uns selbst und andere sehen, wie wir also das Eigene und das Fremde konstruieren. Ethnologische Objekte sind dementsprechend Dinge, die über die Lebensweise und die Kultur bestimmter Gruppen oder Gemeinschaften erzählen. In der Ethnologie spricht man von der materiellen Kultur einer Gruppe.
Gemeinschaften auf der ganzen Welt haben sich über die Zeiten hinweg immer darum bemüht, durch Objekte Zusammengehörigkeit zu demonstrieren – aber auch sich selbst von anderen abzugrenzen. Am deutlichsten sieht man dies an der Kleidung: Bestimmte Kleidungsstücke – nehmen wir etwa den Wickelrockartigen Sarong in Südostindien – besondere Muster, Materialien und Farben – man denke an den ausgewählten Federschmuck verschiedener Gruppen in Südamerika oder Papua Neuguineas. Aber natürlich zeigt sich das Typische auch anhand von Waffen, Schmuck oder Figuren. Interessant ist, dass sich Kulturen nie für immer festschreiben lassen, und immer dynamisch sind. Das heißt, dass es immer auch Wandel gibt.
Wir sind als Museum eine sogenannte „kulturgutbewahrende Einrichtung“: Es ist unsere Aufgabe, Objekte, die als Kulturgut Aufschluss über das Leben, Fühlen und Handeln von Menschen geben, zu erforschen, zu sammeln, zu vermitteln und für die Ewigkeit zu bewahren. Dabei müssen wir uns aber auch bewusst sein, dass gerade Ethnographica in der Vergangenheit mitunter im Rahmen von kolonialen oder imperialistischen Systemen zusammengetragen wurden und durch Sammler an das Museum kamen. Das bedeutet nicht, dass sie immer gewaltsam oder unter Zwang ihren Besitzer wechselten. Die Möglichkeit besteht aber – genau hier setzt die ethnologische Provenienzforschung an, um die Umstände zu klären.
Als Museum sind wir ein Ort der Bewahrung von Kulturgut, Vergangenem, aber auch ein Ort des Zusammenkommens. Hier treffen Generationen aufeinander, hier können Jüngere etwas darüber lernen, wie man in längst vergangenen Zeiten oder auf anderen Kontinenten einst lebte und handelte – aber natürlich nicht abgekoppelt vom heutigen Leben, denn Vergangenheit hat ja auch immer einen Bezug zum Heute, stellt die Grundlage dafür dar.
Gerade deswegen ist es wichtig, dass wir maximal transparent sind und allen Menschen den Zugang zu diesem Wissen ermöglichen, allen eine Teilhabe gewähren – sei es durch Barrierefreiheit im Haus, Mehrsprachigkeit der Ausstellungen oder eine freie Online Collection, die über Wiesbaden, Hessen und Deutschland hinaus Zugang ermöglicht. Aus diesem Grunde gilt es aber auch, Objekte aus Unrechtskontexten klar zu benennen und sie gegebenenfalls auch den Nachfahren jener Personen zurückzugeben, deren kulturelle Grundlage durch die Abgabe genommen wurde. Ein Beispiel hierfür stellt die Rückführung eines neuseeländischen Toimoko dar – der seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Museum lagernde Ahnenschädel kehrte in 2023 in das Land seiner Vorfahren zurück.
Mehr zur Rückführung im Juni 2023 erfahren Sie im Betrag der Hessenschau: Feierliche Zeremonie: Museum Wiesbaden gibt Maori-Schädel an Neuseeland zurück | hessenschau.de | Kultur
Wir erhalten regelmäßig Abfragen über die „Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“. Diese Bundeseinrichtung dient als zentrale Ansprechstation für Personen außerhalb Deutschlands und soll helfen, im Dickicht des Föderalismus den Überblick zu behalten. Die Kontaktstelle leitet die Abfragen an die Bundesländer weiter – und für Hessen fungieren wir dann gemeinsam mit dem Museumsverband Hessen als Verteiler an die einzelnen Museen, Institutssammlungen, Archive und andere sammelnde Institutionen.
Nein, nicht alles wird zurückgegeben, denn es wird ja auch nicht alles zurückgefordert. Es geht darum, den Weg und die Herkunft der Dinge zu verstehen und Brücken zu schlagen. Wir konnten in den vergangenen Jahren neue Verbindungen herstellen – zu Vertreterinnen und Vertretern der Maori und Moriori aus Neuseeland, zu Repräsentantinnen und Repräsentanten verschiedener Gemeinschaften aus Namibia. Auf der Grundlage dieser Kontakte können neue Kooperationen entstehen, soll Austausch aufkommen und so kann das Museum wirklich ein Ort des Zusammenkommens werden, von dem neue Projekte, Ideen und Gespräche ausgehen können. So schlägt es die internationale Museumsorganisation ICOM vor – ein Ziel, das auch das Museum Wiesbaden verfolgt.
Dr. Andy Reymann
Provenienzforscher, Koordinator für das hessische Verbundnetzwerk