Als Schenkung erhielt das Museum Wiesbaden nicht nur den künstlerischen, sondern auch den schriftlichen Nachlass des „Künstler-Ingenieurs“ Werner Graeff (1901–1978). Im Rahmen des Kooperationsprojekts mit der Wüstenrot Stiftung widmet sich Jessica Neugebauer-Boscheck, wissenschaftliche Mitarbeiterin, nun der Aufarbeitung und Erforschung des umfangreichen Bestands.
Welche Entdeckungen Jessica Neugebauer-Boscheck bei ihrer Arbeit bereits machen konnte, erfahren Sie im folgenden Beitrag.
Werner Graeff, der 1921/22 am Bauhaus in Weimar studierte, kam über die sogenannten „De Stijl Kurse“ von Theo van Doesburg zu seiner klaren, geometrischen Ausdrucksform. Ganz im Bauhaus-Sinne sollte Kunst alle Lebensbereiche erfassen und so entwickelte Graeff unter anderem eine internationale Verkehrszeichensprache (1923) eine Kleinbildkamera (1943–46) und fertige Entwürfe für verschiedene Karosserien an (Motorrad-Entwurf 1922; Karosserie-Entwürfe
1922/23).
Noch Jahre nach seiner kurzen Ausbildungsdauer am Bauhaus setzte er sich für den Städtebau ein und entwickelte Pläne zur farbigen Gestaltung des Ruhrlandes (1952), wo er sich, nachdem er Deutschland frühzeitig 1934 ins Exil nach Spanien verlassen hatte, 1951 wieder niederließ.
Weniger im Fokus stand bisher Graeffs Tätigkeit als Pressechef für die legendäre Werkbundausstellung „Die Wohnung“, mit welcher 1927 die zuvor erbaute Weißenhofsiedlung in Stuttgart eingeweiht wurde. Hierzu finden sich zahlreiche bislang ungesichtete Dokumente wie Korrespondenzen, Erinnerungsniederschriften und Publikationen im Nachlass des Künstlers.
Für diese Mustersiedlung des neuen, modernen Baues im Stadtteil Stuttgart-Weißenhof (benannt nach der Stuttgarter Bäckerfamilie „Weiß“, die früher auf dem Gelände ihren Garten hatte) errichten 17 europäische und heute namenhafte Architekten (u.a. Le Corbusier, Hans Scharoun, Walter Gropius) 21 Häuser mit insgesamt 60 Wohnungen.
Für die Gesamtorganisation der Ausstellung wurde 1925 Ludwig Mies van der Rohe vom deutschen Werkbund beauftragt. Im gleichen Jahr wird Graeff Mitglied im Werkbund, der mit Unterbrechung (1938 –47) bis heute existiert.
Vor dem Hintergrund der Industrialisierung und der europäischen Jugendstilbewegung tritt der 1907 gegründete Werkbund als Vereinigung von Künstler:innen, Architekt:innen und Unternehmer:innen mit dem Ziel der „Veredlung der gewerblichen Arbeit“ an. Die Basis einer guten Gestaltung sollte durch Funktionalität und Materialgerechtigkeit sowie durch die Zusammenarbeit von Kunst, Industrie und Handwerk vorangetrieben werden. Die Impulse für Baukultur, Formgebung und gesellschaftliche Prozesse werden durch die Gründung des Bauhauses 1919 vertieft.
Mies van der Rohe beauftragte Werner Graeff 1926 als seinen „Presse- und Propagandachef“ für die Ausstellung „Die Wohnung“. Seine Ideen für Werbung und Marketing der damaligen bahnbrechenden Ausstellungen sind heute noch zeitgemäß. Der Bericht über die Tätigkeit der Presse- und Werbeabteilung der Werkbundausstellung "Die Wohnung" Stuttgart 1927 ist im Graeff Archiv in Kopie enthalten. Darin erwähnt Graeff zum ersten Mal auch seine Kollegin Mia Seeger (1903 –1991). In der Einleitung schreibt er:
„Bei der Bedeutung, die der Werkbundausstellung “Die Wohnung“ ihrer Natur nach zukommen sollte, war die zur Verfügung stehende Zeit ausserordentlich knapp bemessen. Zudem stand von vorneherein fest, dass die Propagandamittel relativ gering sein würden. Hieraus ergab sich die Notwendigkeit, mit sehr wenig Personal auszukommen. Ausserdem erforderte die Materie Spezialkenntnisse, die bei normalen Angestellten nicht vorausgesetzt werden können. Ausser Fräulein S e e g e r verfügte in meiner Abteilung niemand über solche Kenntnisse. (…) Ich muss hier betonen, dass ohne Frl. Seegers ausserordentliche Liebe zur Sache, ohne ihre Sprachkenntnisse und ohne ihre Zähigkeit und Energie es nicht entfernt möglich gewesen wäre, (…) die geleistete Arbeit zu erledigen; eine Tatsache, die, wie ich glaube, selten die nötige Beachtung gefunden hat.“
Manuskript: Bericht über die Presse- und Werbeabteilung der Werkbundausstellung "Die Wohnung" Stuttgart 1927
Diese Beachtung wurde Mia Seeger im Laufe der Jahre glücklicherweise für andere Tätigkeiten noch entgegengebracht. Bevor sie zu Werner Graeff in die Presseabteilung kam, besuchte sie die Grafik-Klasse an der Kunstgewerbeschule in Stuttgart und arbeitete für die Ausstellung „Die Form ohne Ornament“ (1924 Stuttgart, ebenfalls deutscher Werkbund).
Nach dem gemeinsamen Erfolg mit Werner Graeff für die Weißenhofsiedlung übernahm Mia Seeger die Geschäftsführung der deutschen Abteilung auf der berühmten Jahresausstellung der Société des Artistes Décorateurs, im Grand Palais von Paris. Nach dem zweiten Weltkrieg engagierte sie sich für den Wiederaufbau des deutschen Werkbundes. 1952 wurde sie Gründungsmitglied des Rates für Formgebung und übernahm von 1954 bis 1967 dessen Leitung als geschäftsführendes Vorstandsmitglied.
Gemeinsam mit Werner Graeff organisierte sie 1957 den Internationale Kongress für Formgebung in Darmstadt und Berlin. Seeger hatte dabei die Position als Geschäftsführerin inne, Graeff die des Generalsekretärs.
Werner Graeff und Mia Seeger verband zeitlebens eine enge Freundschaft. Diese war geprägt durch das ständige Engagement für das gute Design und einen regen Austausch. Im Graeff Archiv finden sich zahlreiche Korrespondenzen zwischen den beiden. Sie gratulierten sich regelmäßig zu Geburtstagen und schickten sich Weihnachts- und Neujahrsgrüße. Auf den unerwarteten Tod Graeffs im August 1978 reagierte Mia Seeger in einem Brief an seine Witwe Ursula Graeff-Hirsch: „Ein Freund ist gegangen, mit dem mich viel Gemeinsames verbunden hat u. der unvergessen bleiben wird.“
Mia Seeger war zeitlebens im Besitz eines der ersten Gemälde Graeffs, welches nach seiner Rückkehr 1951 nach Deutschland entstand (UR-Tromp, 1952). Testamentarisch hielt sie 1990 fest, dass es nach ihrem Tod an Ursula Graeff-Hirsch gehen soll.
Das Werk kehrte somit 1991, nach Seegers Tod kurzzeitig zu Graeffs Witwe zurück, die es an einen engen Freund von Mia Seeger weitergab.
Im Kondolenzschreiben von Ursula Graeff-Hirsch an die Hinterbliebenen von Mia Seeger heißt es: „Ich wünsche ihr [Mia Seeger], daß sie ihre alten Freunde & Weggefährten wiedertrifft, zu denen auch Werner Graeff gehörte. Ich lernte Mia 1957 in D´stadt [Darmstadt] kennen, als WG [Werner Graeff] ihr Generalsekretär für den internat. Design Kongress war. (…) WG [Werner Graeff] zählte Mia zu seinem Freundeskreis & hatte zeitlebens hohe Anerkennung für sie.“
Fünf Jahre vor Mia Seegers Tod stiftete sie den Mia-Seeger-Preis und benannte als Zweck der Stiftung „Umfassende Förderung des Design als Teil von Wirtschaft und Kultur“. Mit dem Mia Seeger Preis wird seit 1988 „gebrauchstaugliches, sorgfältiges Design“ gefördert.
Autorin:
Jessica Neugebauer-Boscheck
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Kosmos Werner Graeff“
Karin Kirsch, Mia Seeger 1903-1991, in: Baden-Württembergische Portraits. Frauengestalten aus fünf Jahrhunderten hrsg. Von Elisabeth Noelle-Neumann, DVA, Stuttgart, 1999, S. 247-254
Stiftungsurkunde der Mia Seeger Stiftung: Als PDF öffnen
Dokumente aus dem Werner Graeff Archiv:
Werner Graeff, Bericht über die Tätigkeit der Presse- und Werbeabteilung der Werkbundausstellung "Die Wohnung" Stuttgart 1927, Graeff Archiv in Kopie (z. Zt. unter der Nummer 2_7 inventarisiert); das Original findet sich aller Wahrscheinlichkeit nach im Nachlass von Mia Seeger.
Kondolenzschreiben von Mia Seeger an Ursula Graeff-Hirsch (Witwe von Werner Graeff), 02.10.1978, Graeff Archiv (z. Zt. unter der Nummer 1_8_2_8 inventarisiert)
Notarielles Schreiben an Ursula Graeff-Hirsch zum Sachvermächtnis des Gemäldes von Werner Graeff, 12.06.1991, Graeff Archiv (z. Zt. unter der Nummer 2_7_2 inventarisiert)
Kondolenzschreiben (handschriftl. Entwurf) von Ursula Graeff-Hirsch an Frau von Wassmer (Schwägerin von Mia Seeger) als Reaktion auf die Todesanzeige von Mia Seeger, 18.06.1991, Graeff Archiv (z. Zt. unter der Nummer 2_7_7 inventarisiert)